14.10.2025

Kampfzone Freiheit

Die Eröffnungsrede von Christian Schüle am Denkfest 2025

Am 10. Dezember des Jahres 2024 treffen sich in einem Raum in Mannheim fünf Menschen zum ersten Mal. Sofort ist gegenseitige Sympathie vorhanden. Die Fünf beginnen zu diskutieren und sind sich überraschend schnell einig: So, wie es in Deutschland läuft, kann und soll es nicht weitergehen.

Wie sieht es denn aus, da draußen? Es wird gehasst, gehetzt, gemobbt; geächtet, gebrüllt, gegeifert; abgekanzelt, angeklagt, gecancelt, ausgegrenzt, geächtet. Von allen Seiten. Auf allen Seiten. Mit unterschiedlichen Motiven und Motivationen.
Wo nur sind wir hingeraten? In eine Kampfzone. Manche dehnen diese Kampfzone ganz gezielt aus, manche versuchen sie gezielt zu verkleinern. Manche gehen darin unter, manche resignieren. Die Lunten werden kürzer. Und immer mehr wirken gereizt, erschöpft, entkräftet.

Den Fünf im Raum ist rasch klar: Es geht um Freiheit. Um Freiheit? In Deutschland? Kann das wahr sein? Ist es. Viele, sehr viele Menschen im Land sagen: Ja, es hat sich etwas verändert. Aber was? Das Klima ist aggressiver geworden, irgendwie. Ja, natürlich, jeder merkt die Glut der allgemeinen Hitzigkeit. Die einen rufen: Faschismus! Die anderen: Terrorismus! Und immer mehr haben das Gefühl, man könne und dürfe nicht mehr frei sprechen. Man dürfe seine Meinung in diesem freien Land nicht mehr frei und offen sagen.
Doch, darf man. Verfassungrechtlich garantiert, grundgesetzlichn verbrieft. Bis auf Holocaustleugnung und Anstiftung zum Mord darf man fast alles sagen und meinen – muss aber mit den Konsequenzen der Meinungsäußerung klarkommen.
Diese Konsequenzen sind relativ neu, machtvoll und in einem Diskurs kaum zu steuern: Shitstorm, Rufmord, soziale Ächtung und ein hyperaktiver Moralismus, der jede Beißhemmung eingebüßt und den Bezug zur Sache selbst verloren zu haben scheint; mehr noch: der sich in besorgniserregenden Maße über jede Moral des Anstands erhebt und, ironischerweise, zur autoritären Doppelmoral wird, wenn diehenigen, denen man Ausgrenzung vorwirft, selbst ausgegrenzt werden.
Die Logik des neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit lautet: Macht zur Ächtung hat, wer die bestorganisierten Netzwerke hat. Bis man ein durch den Äther schießendes Narrativ geprüft oder widerlegt hat, sind zehn neue im Umlauf. Den destrukltiven rest erledigen die Algorithmen. Die Dialektik von Lüge und Wahrheit hat die zivilisierte Menschheit so weit geführt, dass Lügen und Unwahrheiten so lange zu wiederholt werden, bis sie von immer mehr Menschen als wahr geglaubt werden. Eine Gesellschaft in permanenter Erregung und zugleich permanenter Zeitnot scheint die Kunst, die Kultur und die demokratische Tugend des Zu-, An- und Hinhörens verlernt zu haben. Geduld und Gelassenheit ohnehin.
Wie sehr wünschte man sich, dass Hannah Arendt noch lebte und Bundespräsidentin wäre!

Die fünf Menschen telefonieren, mailen, simsen, zoomen und treffen sich mindestens einmal im Monat. Sie sind sich einig, dass das Problem der Freiheit bei der Unschärfe der Sprache beginnt; dass ungeklärte Begriffe sich verselbständigen und nicht mehr an die Sache rückgebunden sind. Was genau meint eigentlich woke? Wann genau ist das Konservative nicht mehr konservativ? Und ist bereits populistisch, was wir anders noch gar nicht benennen können?
Eine Vermutung kommt auf: Der Diskurs in Deutschland ist gar keiner. Genau betrachtet, ist er in den Mahlströmen medialer Bezichtigungsindustrie zur Parolenschleuder degeneriert. Der Diskurs ist ein zunehmend geschlossenes System der Diskursverhinderung. Ein Wort fällt, sofort ist der Trigger da. Der Anlass spielt schon keine Rolle mehr. Es geht nicht mehr um die Sache an sich, sondern um die Rede über die Sache. In einer weiteren Drehung geht es nicht einmal mehr um die Rede über die Sache, sondern um das Urteil über die Rede über die Sache, die keiner mehr kennt, von der man gehört hat, durch Hörensagen, durch Flüstern, Zwitschern oder Brüllen im ständig zappelnden Netz.
Vordringliches Ziel des demokratischen Diskurses scheint längst nicht mehr die kommunikative Rationalität im Sinne des Philosophen Jürgen Habermas zu sein, sondern die Delegitimierung des Anderen bei gleichzeitiger Emotionalisierung der Sprechsituation. Wer spricht oder sprechen darf, ist wichtiger als das, was sie oder er sagt und worüber gesprochen wird. Was ist das Resultat all dessen? Statt Beweis zählt Verdacht. Statt Nachweis Vermutung. Statt Kausalität die Befindlichkeit. Statt Argument der Affekt. Statt dem gemeinsamen öffentlichen, diskursiv bewirtschafteten Raum gibt es nur noch geschlossene Gesinnungs-Netzwerke mit partikularen Identitäts-Interessen. Echokammern, Ego-Kapseln, fehlende Korrektive. Selektive Wahrnehmung, kognitive Dissonanz, Verdrängung, Ignoranz, Vertrauensverlust. Ausgrenzung. Tendenz: Apokalyptik. Das Ende der Welt. Auf allen Seiten.

Die fünf, manchmal sechs Menschen im Mannheimer Planungsraum kommen überein, unter Freiheit die Freiheit zum Pluralismus der Meinungen und der Koexistenz gegensätzlicher Positionen zu verstehen. Und ebenso schnell entwickeln sich in den Beratungen zwei Leitmotive: Erstens: We agreee to disagree. Zweitens: Geduldet werden kann nur, was auf dem Boden des Grundgesetzes steht und im Rahmen der Verfassung hängt.
Ideen keimen auf, werden verworfen, kommen verändert zurück: Moral oder Freiheit; Moral versus Freiheit; Moral und Freiheit. Namen kursieren, Format-Ideen, Wünsche, Vorschläge. Jeder kennt die repräsentative Umfrage der Forscher des Instituts für Demoskopie in Allensbach vor drei Jahren, derzufolge nur noch 40% der Deutschen das Gefühl haben, ihre Meinung frei äußern zu können. Im Umkehrschluss heißt das: 60% tun es nicht! Die Gefahr wächst, dass Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Angst vor sozialer Ächtung verstummen und in jene „Schweigespirale“ geraten, die Elisabeth Noelle-Neumann 1980 analysierte – und die auf denkwürdige Weise aktuell ist. Grob verkürzt besagt sie folgendes: Furcht, Angst und Unsicherheit des Einzelnen vor sozialer Isolation führt erst zu Schweigen, dann ins innere Exil, dann in die Teilnahmslosigkeit der verstummten Mehrheit, während das Wesen der Demokratie doch notwendig im offenen Gespräch möglichst aller mit allen besteht.

Über die Monate hinweg hören die Planungs-Fünf regelmäßig wieder von Ausladungen, Absagen, Drohungen, von Cancel Culture, Einschüchterung, Zensurversuchen.
Und natürlich von Kulturkämpfen allerorten: öffentlich-rechtlicher Rundfunk, Geschlecht, Nationalstaat. Worum genau wird gekämpft im Kulturkampf? Um Kultur?
Nein, um Kultur gerade nicht, denn Kultur ist das Gegenteil von Kampf: der offene Raum einer offenen Gesellschaft nämlich, in dem doch erst einmal spielerisch alles denkbar ist.
Schon deshalb übrigens ist Kultur in Zeiten knapper Kassen kein Luxus, sondern lebenswichtige gesellschaftliche Daseinsfürsorge.
Das Wort kultiviert kommt übrigens von Kultur, von pflegen, verfeinern. Nicht von zertreten.
Ich darf an dieser Stelle auf das Zitat des hoch respektierten Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer vor kurzem erinnern: Die deutsche Gesellschaft sei heute bereits verrohter als viele es wahrhaben wollten. Heitmeyer analysiert und sagt es seit Jahrzehnten: Gewalt entsteht durch Desintegration.

Die fünf Menschen im Planungsbüro wollen sich der Irrationalität der Dogmatik nicht beugen – nicht der Rücksichtslosigkeit grassierender Radikalität, nicht dem Hang zum Superlativismus ständiger Steigerung und Zurüstung. Ist das naiv? Gegenfrage: Wann hätte Brüllen oder Verstummen in der Sache je weitergeführt?
Dass es Fackelmärsche gegeben hat, wissen wir. Dass es Versuchungen der autoritären Revolte gibt, wissen wir. Dass es Umsturzfantasien gibt, ist bekannt. Dass nur noch im Entweder-Oder-Modus statt im Sowohl-als-auch-Prinzip gedacht wird, ist augenfällig. Aber ist es auch klug? Diskutieren wir offen um tiefschürfend genug über die sozialen, sozialpsychologischen und individualpsychologischen Gründe für all dies?
Besagte Fünf sind, wenn Sie so wollen, im besten Sinne naiv genug, an die Klugheit Voltaires zu glauben, dem das Zitat zugeschrieben wird: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“

Womöglich besteht das größte Problem einer dauererregten Empörungsgesellschaft darin, dass wir, die Mitglieder dieser permanent polarisierten, durch Impuls-Kaskaden pausenlos überreizten und im rasenden Stillstand zugleich erschöpften Gesellschaft, keine allgemeingültige, von den meisten und möglichst allen geteilte, objektiv anerkannte Beschreibung der Realität mehr haben. Keine Übereinkunft dessen mehr, ob Fakten noch als Fakten gelten, was genau ein Fakt sei oder ob Fake und Fiction die Suche nach relativer Wahrheit bereits vollkommen ausgehebelt haben.
Erinnern Sie sich: Vor zehn Jahren gab es nur Mitte. Bräsige Komfortzone.
Eskapismus durch Konsumismus. Allenfalls schmale radikale Ränder in der Gauß’schen Glockenkurve der Normalverteilung. Heute, scheint es, gibt es kaum noch maßvolle Mitte, nur noch maßlos radikalisierte Ränder. Und jeder hat sich sofort zu bekennen.
Und wer sich nicht zum „Richtigen“ bekennt, steht automatisch auf der falschen Seite. Innerhalb von zehn Jahren ist das politische Pendel zurückgeschwungen: Früher Komfortzone, heute Kampfzone. Früher Konsum, heute Identität. Vor zehn Jahren gerne unpolitisch, heute total politisiert. Identitätspolitik von links, Politik des Identitären von rechts. Hier die autoritär gesinnte Revolte, dort ein Puritanismus der Säuberung. Hier Galgen, dort Pranger. Stigmatisierung, Sippenhaft, Kontaktschuld. Will ernsthaft jemand behaupten, das sei klug?
Was folgt daraus? Resilienzverlust und Verlustangst des Bürgers. Kontrollverlustangst und Selbstwertverlust des Individuums. Das Gefühl der Entwertung des Subjekts: ICH werde nicht gehört! ICH werde nicht wahrgenommen. ICH gelte nichts. Bin ich, so fragt sich der Einzelne offenbar, auf einmal austauschbar, nutzlos, wertlos? Die Kontingenzverdacht ist zurück: ICH bin nicht notwendig, Ich bin da, müsste es aber nicht sein.
Die Revolution des Reaktionären greift die Haltlosigkeit auf, bietet ein metaphysisches Obdach in obachlosen Zeiten, erfüllt Sehnsüchte nach Zugehörigkeit und Geborgenheit. In beispielloser Geschwindigkeit durchlaufen seit relativ kurzem auch westlich-liberale Gesellschaften einen Kulturwandel zur Illiberalität. Es geht um die Umwertung der Werte mit dem Ziel, Gefolgschaften zu sichern. Man kann sagen: In der Zeitenwende wenden sich die Zeiten. Die Folgen sind bekannt: Wir gegen Die. Die Logik des falschen Umkehrschlusses: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Maßlosigkeit und Moralspektakel. Auf allen Seiten. Reiz-Reaktions-Schema, Freund-Feind-Dualismus. Auf allen Seiten. Gestörte Affektkontrolle. Auf allen Seiten. Wird Radikalität mit Gegenradikalität beantwortet, läuft es irgendwann auf politische Paralyse hinaus. Block gegen Block. Hass gegen Hass. Und dann, was dann? Haben wir dann genügend Therapeutinnen und Therapeuten? Und ist dann tatsächlich wieder die Frage, auf welcher Seite das Militär steht? Ich darf an dieser Stelle darauf hinweisen, dass laut Bertelsmann-Monitor nur noch 8% der Länder auf der Welt liberale Demokratien sind.

Wochen gehen ins Land, im Mai wechselt die Regierung. Das Wetter wird schöner, die Stimmung bleibt düster, der Herbst bricht an. Seit Anbeginn eint die Fünf, manchmal Sechs im Mannheimer Planungsbüro ohne Wenn und Aber, dass ihnen jede Art des autoritären Denkens, jede Form extremistischen Verhaltens zuwider ist. Und zu jeder Minute ist klar, dass es um Freiheit gehen muss – und dass Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden, Andersglaubenden und Andersmeinenden ist, sonst wäre es keine Freiheit.
Rosa Luxemburg meets Kant meets Habermas meets Denkfest.
Nach wie vor basiert Demokratie auf Voraussetzungen, die sie selbst weder schaffen noch garantieren kann: Zuwendung der Bürger, Gemeinsinn, Zivilität. Und organisierte Selbstverständigung auf Basis individueller Mündigkeit durch Bildung und Austausch. Wer die freiheitliche Demokratie wirklich retten will – müsste der nicht genau hier ansetzen?

II.

Wir fünf, manchmal sechs Menschen im Planungsbüro haben seit fast einem Jahr an einer verrückten Idee gearbeitet. Wir wollten das, was früher völlig normal war: diskursive Verständigung auf Basis des Verstands. Verstehenwollen, ohne Verständnis haben zu müssen. Verständigung setzt Verstehen voraus. Verstehen Erkennen, Erkennen setzt Kennen voraus. Will heißen: Verständigung braucht Verstand, ohne dass man Verständnis haben muss.
Wir wollten also ein Denkfest konzipieren, das Differenz und Offenheit anstrebt und sich zum Ziel setzt, keine gefällige Moral, sondern eine nüchterne Ethik der Ambivalenz anzubieten. Ambivalenz will Plural, begehrt Pluralität und feiert den Pluralismus. Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen. Inklusive der Idee, dass immer auch der Andere Recht haben könnte. Dass man selbst irrt, da irren doch allzumenschlich und keiner davor gefeit. Geht es demokratischer?
In konstruktiver Weise sollte dieses Denkfest angewandte Subversion sein – weil es durch die Einladung zum ergebnisoffenen Gespräch den Widerspruch gegen Sprachlosigkeit und Sprechverweigerung leistet; als Einspruch gegen den „hermeneutischen Zirkel“, demzufolge von vornherein schon feststeht, was am Ende herauskommen soll. Durch Tete-a-Tetes, Deep Dives und Kettengespräche wollten wir einen performativen Diskurs auf die Bühne bringen, der sich idealerweise selbst hervorbringt und insofern authentisch ist; der nicht präfiguriert und nicht vorab-ideologisiert ist. Und dann geschah es: Wir selbst gerieten in die Kampfzone Freiheit. Heute vor einer Woche wuchs der Widerstand gegen unser Verständnis von Freiheit und Diskurs so stark, dass wir das Programm an einer entscheidenden Stelle ändern mussten: Sie werden Susanne Dagen in diesem Raum nicht finden. Waren wir naiv? Haben wir unsere eigenen Grundsätze über Bord geworfen? Hatten wir selbst „Angst vor Ambivalenz“? Über Kuschen, Kämpfen und Konsequenzen später am Nachmittag eine aufrichtige, ausführliche Introspektion des Falls Denkfest 2025.

Wann wäre dieses Denkfest ein Erfolg? Doch dann, wenn es gelänge, im Furor der Schlagabtäusche und der Hyper-Nervosität der Reiz-Reaktions-Verschlagwortung für einen Moment innezuhalten. Sich zurückzulehnen. Sich irritieren lassen. Womöglich verstört zu werden. Aus den Volten, in die dieses Denkfest geraten ist, Erkenntnisgewinne für die eigene Arbeit in der Zukunft zu generieren. Ich persönlich übrigens halte es für weit besser, nachzudenken, vorzudenken und miteinander zu sprechen, bevor auch hierzulande der erste Schuss gegen Menschen mit unliebsamen Meinungen fällt.
In der Hoffnung auf einen kultivierten, konstruktiven, erkenntnisreichen Pluralog sei der offene Raum geöffnet – und das Denkfest 2025 eröffnet.

Landau, 08.10.2025